Die Legende von Mythopia
Wir hatten in Städten gewohnt und alles Mögliche studiert, meist im Sitzen gearbeitet, hochtrabende Ideen ausformuliert und die Welt bereist. Ein bisschen Künstler, ein bisschen Philosoph, ein bisschen Alpinist. Aber es fehlte etwas, dass unser Leben im Konkreten verankerte. Wir waren zu erfahrungslos, um zu verstehen, was mit der Welt los ist. Wir wussten alles besser, aber nicht, warum es niemand besser macht. Es wurde Zeit, mit den eigenen Händen und den Kräften der Natur etwas herzustellen, das nicht nur einen eingebildeten, sondern einen tatsächlichen Wert in sich hatte. Lebensmittel herstellen, ein Haus bauen, oder eben Wein produzieren.
Wein ist heute fast das einzige landwirtschaftliche Produkt, dessen Wert sich vorrangig über seine Qualität und weniger über die bloße Menge definiert. Anders als bei Tomaten, Orangen und Mehl wissen die Kunden beim Wein, woher er kommt, wer ihn gemacht hat, wie er angebaut wurde. Wein hat eine Geschichte und ist mitunter lebendig. Jeder Kunde kann sein Urteil darüber fällen, wie gut der Wein ihm tut, wie er ihm schmeckt und kann sich mit anderen darüber austauschen.
Wir wollten nicht nur in hoher Biodiversität produzieren, wir wollten auch zeigen, dass die landwirtschaftlichen Erzeugnisse dadurch besser werden. Und das ist in der Moderne fast nur noch mit Wein möglich.
Mythopia entsprang also einer Lust, etwas zu machen, wovon wir im Grunde keine Ahnung hatten, und uns die Freiheit zu nehmen, trotzdem vieles radikal anders zu machen, als diejenigen, die so viel mehr Ahnung haben.
Wir hatten weder Land noch Know How noch Kapital geerbt. Aber dafür hatten wir auch nichts zu verlieren. Wir begannen mit 150 Quadratmetern auf einer steilen Terrasse über dem oberen Rhonetal und ernteten dank des vom Vorgänger überdüngten Bodens und dem Pflanzenschutz aus Helikoptern unglaubliche 350 kg Trauben. Das war mehr als wir heute auf über 1000 m2 extensiv mit Bäumen, Blumen und Sträuchern durchsetzten Rebflächen ernten. Wir holten uns Rat von Profis und gaben schockiert vom beißenden Geruch die empfohlene Menge Sulfite dazu. Dies war dann allerdings auch das letzte Mal, dass ich Wein mit Sulfit versetzte. Es war 2004 und der Pinot Noir natürlich nichts Besonderes, wir genossen ihn trotzdem, ersparten es aber fast allen anderen, davon zu kosten.
Die Langversion der folgenden Geschichte bleibt in einem Buch zu erzählen. Springen wir einige Jahre weiter. Dank eines zinsgünstigen Kredits wuchs die Größe von Mythopia auf über drei Hektar Steillage. Umgeben von Wald und dank unserer wilden Strategien, wurden die Weinberge zu einem Biotop, das Naturliebhaber, Medien und Wissenschaftler begeisterte. Bereits 2009 gründeten wir zusammen mit Karl Schefer das Delinat Institut für Weinbau, Biodiversität und Klimafarming, mit dem wir ein Weinbau-Beratungsnetzwerk quer durch Europa knüpften. In diesem Zusammenhang entwickelten wir auch die Delinat-Richtlinien und die Charta für Weinbau in hoher Biodiversität. Aus der verrückten Wette, Bauer zu werden, war bereits eine gewisse Erfolgsstory geworden, die sich aber zunächst noch nicht in der erhofften Qualitätssteigerung der Weine bemerkbar machte.
Ab der ersten echten Mythopia-Ernte 2005 kelterten wir unsere Weine komplett ohne Zusatzstoffe, also auch ohne Sulfite. Den Begriff „Orange Wine“ gab es noch nicht, und wir nannten den im Barrique ausgebauten Fendant mit monatelanger Maischestandzeit „Golden Wine“. Doch trotz des schicken Namens, verkauften wir fast nichts davon. Es waren die Pionierjahre des Naturweins, die wir nur überlebten, weil wir unser Familiengeld weiterhin anderweitig verdienten. Die Folge aber war, dass die roten wie weißen Weine Jahr um Jahr länger in den Holzfässern verblieben, da uns dies wenigstens den Kauf der Flaschen und Korken ersparte.
Dank des Misserfolgs unserer frühen Weine lernten wir, wie entscheidend die Zeit ist, um Naturweine zu sich selbst kommen zu lasen. Ohne die Ablehnung, die wir insbesondere von den lokalen Händlern und Restaurants erfuhren, wären wir vielleicht nie darauf gestoßen, dass die Naturweine wenigstens drei bis vier Jahre der Mikrooxidation brauchen, um ihre Komplexität und Stabilität zu erwerben.
Die Weinberge waren inzwischen phantastisch erblüht, die Erntemengen im Vergleich zu den konventionellen Nachbarn drastisch gesunken, und im Keller alterten unbemerkt einige ziemlich großartige Weine. Es dauerte bis 2015, dass Disobedience (Fendant) und Illusion (Pinot Noir) merkliche Anerkennung quer durch Europa fanden und schließlich weltweit Aufmerksamkeit auf sich zogen. Kopenhagen, London, New York brachten den Durchbruch und die sozialen Medien, die in jenen Jahren aufkamen, sorgten fast ohne Marketing dafür, dass die Weine über die Naturweinnische hinaus bekannt wurden.
Das wir nach gut einem Jahrzehnt schließlich solchen Erfolg mit den Weinen haben würden, war in keiner Weise zu erwarten gewesen. Wir verdanken es vielen günstigen Umständen, und wir hätten wohl auch ebenso gut scheitern können. Aber unsere wesentlichen Grundsätze haben sich mit den Jahren und letztlich auch mit den Orten unserer sich entfaltenden Aktivitäten als ziemlich robust herausgestellt:
- Der Weinberg ist ein Garten, in dem vieles wächst. Bäume, Büsche, Gemüse, Gräser, Blumen.
- Zwischen Februar und November muss im alpinen Weinberg immer etwas Essbares zu finden sein.
- Pflanzenschutzspritzungen sind auf ein Minimum zu reduzieren und mit biologischen Mitteln durchzuführen, die nicht verhindern, Obst und Gemüse zum direkten Verzehr zu pflücken.
- Zur Düngung werden nur organische Substanzen wie Kompost und Fermente sowie Gründüngung eingesetzt. Es wird nicht die Pflanze, sondern der Boden ernährt.
- Der Weinberg muss mehr Kohlenstoff aus der Atmosphäre aufnehmen und speichern als bei seiner Bewirtschaftung emittiert wird.
- Der Boden ist ganzjährig bewachsen. Nur in extrem heißen und trockenen Weinbergen darf maximal 50% der Begrünung während der Hauptvegetationsphase umgebrochen werden.
- Wir züchten im Weinberg die mikrobielle Biodiversität, die wir auf der Traubenhaut mit in den Keller bringen und die schließlich aus dem Traubensaft unsere Weine fermentieren.
- Alle Weine werden nur aus Trauben und ohne jegliche Zusatzstoffe hergestellt.
- Auch wenn wir eine gewisse Abneigung gegenüber den Auswüchsen der Administration und der Bevormundung durch landwirtschaftliche Behörden hegen, sind unsere Weinberge bio-zertifiziert.
Mythopia Research ist über die Jahre zur Forschungsstation für das Ithaka-Institut geworden. Durch den Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis wurden Methoden und Strategien für einen ökologisch und wirtschaftlich nachhaltigen Weinbau entwickelt. Darüber hinaus spielt das Weingut eine wichtige Rolle bei der Erforschung landwirtschaftlicher Methoden, die sich positiv auf den globalen Kohlenstoffkreislauf auswirken.
In Mythopia spielen Geigen und Grillen, fliegen Dutzende von Schmetterlingsarten, springen Heuschrecken durch Blumenwiesen und die Luft ist erfüllt von Oregano, Thymian, Wermut und Minze. Nur in Weinbergen, die im Einklang mit der Natur bewirtschaftet werden und gesunde Böden haben, können Weine voller Charakter und Ausdruck produziert werden. Das Terroir, also das Zusammenspiel des Winzers mit Geologie, Klima, Topografie und Böden, kann nur in Weinbergen mit hoher Biodiversität seinen vollen Ausdruck entfalten.
Pinot Noir, Johannisberg, Fendant, Johanniter, Cornalin und Resi werden in drei verschiedenen Lagen in Höhen zwischen 700 und 900 Metern angebaut. Die Weine werden im traditionellen Steinkeller rein natürlich vinifiziert. Ohne technische Eingriffe und önologische Hilfsmittel werden die Weine erst nach mehrjähriger Lagerung in alten Eichenfässern ungefiltert abgefüllt.
Mythopia ist ein Wortspiel, das „Mythos“ und „Topos“ kombiniert, d. h. den Ort (Topos), an dem das Wort (Mythos) nicht nur ausgesprochen, sondern auch gelebt und verwirklicht wird. Der Name ist natürlich von Utopia inspiriert, aber im Gegensatz zu Utopia, das ursprünglich ein Nicht-Ort ist, existiert Mythopia tatsächlich und Utopia wurde hier zumindest in kleinem Maßstab verwirklicht. In Mythopia hören die Menschen endlich auf, der Welt ihre Ideale aufzuzwingen, und träumen stattdessen davon, ihre Ideale so zu gestalten, dass sie zur Realität passen.